Die Befreiung der Energie

Zu den Arbeiten von Regine von Chossy von Hilla Gruchot,
erschienen in Nike im Dezember 1988 und in "Beispiel einer privaten Kunstförderung", Förderkreis bildende Kunst in Nürnberg, 1990

Präzis muss man das Energieerhaltungsgesetz und die Relativitätstheorie nicht im Gedächtnis haben, es genügt, sich daran zu erinnern, dass Energie nicht verloren geht, sondern umgewandelt wird.

Energie ist unsichtbar und überall: Licht, Wärme, Bewegung, Wachstum sind Formen der Energie, Energie ist immanent in Kunst, Musik und Literatur. Denken, Wollen, Handeln beruhen auf der Energie als Antriebskraft. Man spricht von der Ausstrahlung eines Menschen, seiner Wellenlänge. Energieströme gehen auch von Tieren - ruhenden Kühen, meditierenden Katzen – aus. Das Leben ist ein ständiger, leider meist massiv gestörter Energiefluss – Liebe ist Energie. Und auch der Tod setzt Energie frei.

Regine von Chossy sammelt Energien, setzt sie in „energetische Zeichnungen“ um. „Als wandelnder Energiespeicher nehme ich positive Kräfte in mich auf, woher ich sie nur bekommen kann. Ist die Batterie aufgeladen, breche ich in das energetische Feld (die Zeichenfläche) ein, streiche, hacke, punktiere, vibriere meine Energien hinein (mit Pinsel, Stift, Nägeln, Fingern, Händen und anderen Körperteilen)..." Es entsteht ein neuer „Energie-Organismus". Zur Erzeugung "energetischer Zeichnungen" setzt Regine von Chossy auch ihre Stimme ein (sie hatte einige Jahre Stimmbildung bei Cesare Cocco): "Ich induziere Schwingungen, sammle sie in mir und kumuliere sie bis zur Entladung auf der Zeichenfläche"; eine Energiespur entsteht: Die "energetischen Zeichnungen" können auch wieder entmaterialisiert werden, in eine "Tonzeichnung" im Raum.

Die Wechselwirkung von Gesang und Zeichnung demonstrierte Regine von Chossy 1986 in der Kunsthalle Nürnberg und 1987 in Mönchengladbach anlässlich der "Ensemblia" mit ihrer Performance "Synästhetische Zeichnung und Stimmvibrationen". Seitdem eröffnet sie wenn möglich, jede Einzelausstellung mit einer Performance.

In Chossys Zeichnungen gibt es kein Zentrum, der dramatische Ausgangspunkt wird nivelliert durch Linienfolgen. Vernetzung der Bildfläche, Überlagerung, Verdichtung. Es gibt keine ruhenden Orte, alles ist in Bewegung

Fließend, pulsierend, schwebend, sich wandelnd, ambivalent, veränderbar. Die Flüchtigkeit des Augenblicks wird spürbar, die Zerbrechlichkeit der Notation sichtbar, wird gelöscht und gleichzeitig verewigt, versteckt und wieder hervorgelockt. Flucht und Rückkehr, ein Pendeln, zwischen Chaos und Ordnung, auf der Suche nach Ordnung und zugleich die Sehnsucht zu bezwingen, sich im Unendlichen zu verlieren

Als "energetische Künstlerin" bezieht sie sich naturelment auf den Naturphilosophen Ostwald. Wilhelm Ostwald (1853–1932), Chemiker (Nobelpreisträger 1909) und Philosoph, Vertreter des Monismus und für seine auf einem Doppelkegel aufgebaute Farbenlehre ebenso bekannt wie für die von ihm begründete naturphilosophische Lehre von der Energetik, die die Energie als Wesen und Grundkraft aller Dinge erklärt. Energie ist die Grundlage allen Geschehens. Der Grundsatz seiner Philosophie ist der "energetische Imperativ“: „Verschwende keine Energie, verwerte sie!" Natürlich positiv.

Auch ihre plastischen Arbeiten - aus einem Gespinst von Stahlspänen, menschlichen und tierischen Haaren, Nägeln und Fäden "geformte", phallusartige, bis drei Meter hohe Objekte ("Fingerling", "Säuler", Vliese, "Schaufelschwänze") - versteht Regine von Chossy als Energieträger, in denen die Spannung jeder einzelnen Spanspirale oder jeden Haares spürbar bleibt. Das amorphe Material versucht eine strenge Form (Kubus, Zylinder) zu finden, es ringt um Haltung - Idealziel wäre die Entelechie.

In den neueren Wandstücken („Salve Fibonacci") wird eine Synthese von Zeichnung, Malerei und Plastik angestrebt. Die Proportionen der vliesartigen Objekte beruhen auf mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Struktur und Farbigkeit des Materials (Späne, Haare, Wachs) erscheinen ambivalent, fordern Annäherung und Distanz zugleich. Die Künstlerin selbst vermutet in diesen Objekten "pantheistische Andachtsbilder".

Chossys Arbeiten sind in einem membranen Grenzbereich der Umwandlung angesiedelt. Der flüchtige Moment der Verwandlung, Übergänge werden sichtbar, Entstehen und Vergehen, Auftauchen und Versinken trotz aller Bewegtheit kontemplativer Bilder zur Ruhe gekommene Unruhe.

Lässt man sich auf die Arbeiten Regine von Chossys ein, so fühlt man sich hineingezogen in einen spannenden Dialog zwischen Intuition und Kontrolle, Emotion und Methode. Die Parodoxien aushalten, Begriff gegen Gefühl tauschen und Gefühl gegen Begriff – so ließe sich die Haltung beschreiben, die diese - im Grunde monologischen – Bilder bestimmt. Eine sinnliche dialektische Arbeit.